Buchvorstellung & Gespräch mit Norman Ohler & Vincent Platini
Moderation: Prof. Dr. Margarete Zimmermann
Drogen, Spaß & Krimis im Dritten Reich
24.11.2017 – 19:30
Eintritt frei
Norman Ohler, Der totale Rausch, Kiepenheuer und Witsch, 2015
Über Drogen im Dritten Reich ist bislang wenig bekannt. Norman Ohler geht den Tätern von damals buchstäblich unter die Haut und schaut direkt in ihre Blutbahnen hinein. Arisch rein ging es darin nicht zu, sondern chemisch deutsch – und ziemlich toxisch. Wo die Ideologie für Fanatismus und »Endsieg« nicht mehr ausreichte, wurde hemmungslos nachgeholfen, während man offiziell eine strikte Politik der »Rauschgiftbekämpfung« betrieb. Als Deutschland 1940 Frankreich überfiel, standen die Soldaten der Wehrmacht unter 35 Millionen Dosierungen Pervitin. Das Präparat – heute als Crystal Meth bekannt – war damals in jeder Apotheke erhältlich, machte den Blitzkrieg erst möglich und wurde zur Volksdroge im NS-Staat.
Auch der vermeintliche Abstinenzler Hitler griff gerne zur pharmakologischen Stimulanz: Als er im Winter 1944 seine letzte Offensive befehligte, kannte er längst keine nüchternen Tage mehr. Schier pausenlos erhielt er von seinem Leibarzt Theo Morell verschiedenste Dopingmittel, dubiose Hormonpräparate und auch harte Drogen gespritzt. Nur so konnte der Diktator seinen Wahn bis zum Schluss aufrechterhalten. Ohler hat bislang gesperrte Materialien ausgewertet, mit Zeitzeugen, Militärhistorikern und Medizinern gesprochen. Entstanden ist ein erschütterndes, faktengenaues Buch.
2015 ist nach fünfjähriger Recherche Ohlers erstes Sachbuch »Der totale Rausch« über die bisher kaum aufgearbeitete Rolle von Drogen im Dritten Reich erschienen. Für Der totale Rausch recherchierte er fünf Jahre lang in Archiven in Deutschland und den USA und wertete zahlreiche Originalmaterialien aus, die der Forschung entgangen waren.
Ins Frz. übersetzt von Vincent Platini (L’extase totale, la Découverte, 2016)
Mehr über den Autoren hier
Vincent Platini, Lire, résister, s’évader (la Découverte, 2014), Krimi, anthologie de récits policiers sous le Troisième Reich (Anacharsis, 2014)
Gegen alle landläufigen Vorstellungen hat man sich während des NS-Regimes durchaus amüsiert. Während Deutschland auf der einen Seite immer mehr im Blutvergießen versank, verzeichnete die Vergnügungskultur Zuwächse, und der Krieg verstärkte sogar noch diese Inflation der Lustbarkeiten; das Lachen übertönte die Schreie der Opfer. Das Dritte Reich war in der Tat eine Konsumgesellschaft wie andere auch und träumte von denselben Amüsements wie die Vereinigten Staaten. Freizeitbeschäftigungen trugen dazu bei, die Unterdrückung erträglicher zu machen und erlaubten zugleich, faschistische Normen in humorvoller ‚Verpackung’, durchzusetzen.
Kann man deshalb die Massenkultur als eine ‚weiche’ Spielart der Propaganda betrachten? Ganz und gar nicht. Zwar wurde die ‚Hochkultur’ im Dritten Reich gleichgeschaltet, aber die populäre Vergnügungskultur verfügte, gerade weil sie als weniger wichtig betrachtet wurde, über gewisse Freiräume. In Lire, s’évader, résister (La Découverte, 2014) sowie in Krimi, einer Anthologie von Kriminovellen aus der NS-Zeit (Anacharsis, 2014), entwickelt Vincent Platini eine originelle, von Foucault inspirierte Fragestellung zu den Machtbeziehungen in der Massenkultur. Vor allem aber regen seine Forschungen, über den Umweg des Kriminalromans, einer vernachlässigten literarischen Gattung, zu einer neuen Lektüre der Geschichte des III. Reichs an.
Lange Zeit wurde diese geringgeschätzte und in ihrem Umfang nur schwierig zu kontrollierende Literatur kaum beachtet. Da der Nazi-Diskurs sich dort nicht durchsetzen und keine soziale Kontrolle in den Köpfen der Leserschaft bewirken konnte, haben Schriftsteller wie Adam Kuckhoff oder Michael Zwick in diesem Medium einer Stimme der Subversion Gehör verschafft – bevor sie von der Literaturgeschichte nach 1945 vollkommen vergessen wurden.
1980 in Frankreich geboren ist Vincent Platini tätig als Dozent und Forscher an der Uni Kassel.